Die Ausstellung “körper“ - von der Hitze einer Berliner Nacht
I
Du fährst mit Freunden
von Leipzig nach Berlin.
Berlin.
Eine Jagd als Stadt.
Ein Rausch als Stadt.
Ein Sex als Stadt.
Eine Erschöpfung als
Stadt.
Der Fahrer des Autos ist
kein Unbekannter: Lexander Prokogh. Absolvent der Stroganov Moscow
State University of Arts and Industry.
Maler.
Einer von zwei
ausgestellten Künstlern der anstehenden Ausstellung.
Die Freundin auf dem
Rücksitz ist keine Geringere als Lena Inosemzewa.
Dichterin.
Malerin.
Kunsthistorikerin.
Sie ist einigermaßen
gespannt auf die Ausstellungseröffnung heute Abend.
Ihre Mission:
die Eröffnungsrede.
Der Berliner Verkehr ist
irre.
Irre provokant.
Irre frech.
Irre gereizt.
Ab der ehemaligen
Stalinallee beruhigt sich der Verkehr etwas.
Ihr sagt für euch
wirklich Stalinallee, weil Stalin auch irre war.
Das kann man nicht
vergessen.
Lexander Prokogh erklärt
dir, dass du dir Moskau genau so vorstellen kannst.
II
Sie haben Ihr Ziel
erreicht.
Giselastraße Nummer
zwölf.
GISELA heißt auch der
freie Kunstraum in einem Eckladen.
Ihr werdet von Mitgliedern
des Kulturringes in Berlin, den Organisatoren der Ausstellung
begrüßt.
Inge Gräber.
Malerin.
Heinz-Hermann Jurczek.
Maler.
Gerhard Zaucker.
Maler.
Und dann werdet ihr von
David Pollmann begrüßt.
David Pollmann:
Absolvent der Folkwang
Universität der Künste in Essen.
Absolvent des
Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz in Berlin.
Fotograf.
Performancekünstler.
Einer von zwei
ausgestellten Künstlern der anstehenden Ausstellung.
Du wirfst einen ersten
Blick auf die Ausstellung.
Die Hängung zweier Bilder
fällt dir auf:
Die Hautfarbe eines Aktes
in einer Fotografie von David Pollmann ergibt den Hintergrund des
daneben hängenden Gemäldes von Lexander Prokogh.
Bis zur Eröffnungsrede
hat es noch ein paar Stunden.
Ihr beschließt in ein
Restaurant zu gehen.
III
Satt und gestärkt kehrt
ihr zu den Bildern zurück.
Eine Jagd.
Ein Gefecht ohne Waffen.
Sex.
Lust.
Erschöpfung.
Lexander Prokogh und David
Pollmann machen sich in ihrer Ausstellung “körper“ auf die Suche
nach der Halbwertzeit dieser Momente.
Ein Kuriosum dieser
Ausstellung ist, dass sich die beiden Künstler vorher nie begegnet
sind.
Und doch arbeiten sie
gemeinsam:
David Pollmann hebt die
Regeln der Zeit auf, wenn er, wie in “Jungs von Berlin“, das als
eine Hommage an Picasso und seine “Damen von Avignon“ gelesen
werden kann, die Lustbarkeit einer unermüdlichen Großstadt zeigt.
Wenn er die lieben
Großmeister der Malerei mit seiner Fotografie zitiert.
Wenn er die Werke der
lieben Großmeister der Malerei neu inszeniert.
Lexander Prokogh
verschiebt mit seiner Malerei den Raum, bis alles nur noch aus
Lichtbrechungen zu bestehen scheint.
Die Ahnbarkeit der Umrisse
trifft auf die Neuerfindung des Betrachtens.
Gemalte Pixel verzerren,
was in seinem Ursprung eine Fotografie gewesen sein muss.
Coitus
a tergo.
Ein
Gefecht ohne Waffen.
Badende
Kinder.
Adam/Eva.
Du
denkst bei dir, dass Eva mit Adam schon dreißig Jahre verheiratet
ist. Weil sie sich in und auswendig kennen, haben sie das Sprechen
verlernt. Man sieht ihnen die angedichtete Vertreibung aus dem
Paradies an, denkst du bei dir.
Ein
Teelöffel wird an ein Glas geschlagen.
Ruhe
bitte.
Lena
Inosemzewa hat das Wort.
Sie
beleuchtet in ihrer Rede die kunsthistorische Bedeutung des
menschlichen Körpers von der Antike bis zur klassischen Moderne.
Sie
weist Picasso als einen Revolutionär aus, der einen neuen Blick auf
den menschlichen Körper im allgemeinen und den weiblichen Körper im
Besonderen ermöglicht hat.
Sie
vergleicht die Werke David Pollmanns und Lexander Prokoghs
miteinander, sie ordnet sie ein, sie seziert sie und setzt sie wieder
zusammen.
In
der Galerie fällt eine Stecknadel auf den Boden.
Als
Lena Inosemzewa allen Beteiligten der Ausstellung gedankt hat und
alle Besucher eingeladen hat, die Verbindung Raum – Körper –
Bild zu erkunden, hat sich die Galerie zum Drängen gefüllt.
Du
erhaschst noch ein Foto der Rednerin.
Dann
folgt ein warmer Applaus.
Die
Ausstellung ist eröffnet.
Mazel
tov.
IV
Dir
wird heiß in der Galerie.
Du
wirst gebeten, die Künstler mit einer Abgeordneten des Bundestages
zu fotografieren.
Dr.
phil. Gesine Lötzsch.
Partei:
Die Linke.
Rote
Lederjacke.
Rote
Handyhülle.
Akzente.
Nicht
unsympathisch.
Du
brauchst frische Luft.
V
Du
betrachtest das Treiben in der Galerie von draußen durch das große
Schaufenster.
Die
Scheibe ist beschlagen.
Du
schätzt, dass es um die fünfzig Besucher hat.
Wohliges
Drängen.
Neugieriges
Voranschieben.
Du
denkst dir die Galerie als einen ausgeleuchteten Mutterleib.
Warm.
Geborgen.
Feucht.
Hier
draußen ist es kalt.
Hier
draußen ist man anonym.
Allein
mit der Großstadt.
Du
siehst auf die Uhr.
In
einer Stunde fährt dein Zug nach Leipzig zurück.
Aschenputtel,
verlier nicht deinen Schuh!
Und
wenn schon...
Fotos (2): Nils Müller
Fotos (2): Nils Müller
David Pollmann, "David und Tim", Injektprint auf Hahnemühle Photorag, 2019. Kleines Objekt oben links: Lexander Prokogh, o.T., Öl auf Leinwand, 2019. |
Lexander Prokogh, "Eva. Adam.", Öl auf Leinwand, 2019. |
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